von Benny Kuruvilla, IPG Journal, 10. Februar 2021. Das Fiasko mit Astra Zeneca entlarvt die Heuchelei der EU. Im eigenen Interesse beruft sie sich auf Ausnahmen – für ärmere Länder lehnt sie diese ab.
DPARaphaels „Drei Grazien“, angepasst an den Corona-Winter 2021.
Und wem dienen sie?
Während die Pandemie ins zweite Jahr geht, listet die WHO acht
Covid-19-Impfstoffe auf, die bereits allgemein eingesetzt werden. Weitere
Impfstoffe befinden sich noch im Zulassungsverfahren. Das ist in der Impfgeschichte
beispiellos. Es böte der Weltgemeinschaft, wenn sie auf internationaler Ebene
effizient zusammenarbeiten würde, eine reelle Chance, 2021 sowohl die Pandemie
zu bewältigen als auch die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.
Stattdessen steht die Welt nach Meinung des WHO-Generaldirektors Tedros
Adhanom Ghebreyesus bei der Impfstoffverteilung am Rande eines „katastrophalen
moralischen Versagens“. Die Welt steckt in einer Sackgasse des
„Impf-Nationalismus“. Während sich die reichen Länder Verträge sicherten, mit
denen sie ihre gesamte Bevölkerung bis Jahresende dreimal impfen können, werden
85 arme Länder erst Anfang 2023 Impfstoffe einführen können – wenn überhaupt.
Dass reiche Länder aus Profitgründen Impfstoffe horten, stellt eine
„Impfstoff-Apartheid“ dar, die nicht nur den reichen Ländern ein unberechtigtes
Privileg gewährt. Die Pandemie wird damit naiverweise als nationales oder
regionales Problem behandelt, obwohl sie ganz offensichtlich globaler Natur
ist. Dabei könnte, wie eine aktuelle Studie belegt, der Impf-Nationalismus
wegen der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen allein die reichen Länder
4,5 Billionen US-Dollar kosten.
Die allermeisten armen Länder – also der größte Teil der Weltbevölkerung –
können froh sein, wenn sie bis zum Ende des Jahres auch nur zehn Prozent ihrer
Bevölkerung impfen können.
Doch trotz des ohnehin massiven Ungleichgewichts zugunsten der EU hat die
EU den Pharmariesen Astra Zeneca scharf angegriffen, als das Unternehmen
ankündigte, weniger als die Hälfte der bis März 2021 versprochenen 80 Millionen
Impfdosen auszuliefern. Damit durchkreuzte der Pharmakonzern die Pläne der EU,
bis zum Ende des Sommers 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zu impfen. Die
allermeisten armen Länder – also der größte Teil der Weltbevölkerung – können
hingegen froh sein, wenn sie bis zum Ende des Jahres auch nur zehn Prozent
ihrer Bevölkerung impfen können.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen behauptete noch im November,
die beste Strategie gegen das Virus sei geopolitische Kooperation statt
Konkurrenz. Doch ihr derzeitiges Fiasko mit Astra Zeneca hat die Heuchelei der
EU entlarvt, drohte die EU doch damit, sich im Interesse Europas auf dieselben
Ausnahmeregelungen zu berufen, die sie für die Bürgerinnen und Bürger des
globalen Südens gerade ablehnt.
Auf internationaler Ebene verstecken sich die reichen Länder und die
Pharmakonzerne hinter dem so harmlos klingenden „geistigen Eigentum“, das mit
katastrophalen Folgen durchgesetzt wird. Seit seiner Einführung im Jahr 1995
ist das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen
Eigentums (TRIPS) der wohl schwächste Baustein der Welthandelsorganisation
(WTO). Während das TRIPS-Abkommen paradoxerweise die Monopolrechte von
Unternehmen gestärkt hat, ermunterten die übrigen WTO-Abkommen zu Wettbewerb,
Deregulierung und Freihandel.
Genau wie vor 20 Jahren blockiert eine mächtige Clique reicher Länder unter
Führung der EU, der USA, Großbritanniens und Japans eine Ausnahmeregelung mit
dem Argument, ein Patentverzicht würde die Innovationstätigkeit ausbremsen.
Als in den späten 1990er-Jahren die HIV/Aids-Epidemie grassierte, kosteten
patentierte antiretrovirale Arzneimittel für ein Jahr rund 12 000 US-Dollar pro
Patient. Der südafrikanische Präsident Nelson Mandela machte sich zum
Wortführer eines weltweiten Protests mit dem Ziel, Zugang zu bezahlbaren
lebensrettenden antiretroviralen Medikamenten zu erhalten. Er setzte sich über
die TRIPS-Bestimmungen hinweg und startete einen Frontalangriff gegen die
Großen der Pharmaindustrie. Der indische Generikahersteller Cipla reagierte auf
diesen Vorstoß und verblüffte die Welt im Februar 2001 mit der Einführung eines
Medikaments zur Aids-Bekämpfung, das weniger als ein US-Dollar pro Tag kostete.
Ermutigt durch diesen Erfolg, setzten die Entwicklungsländer sich gegen den
Widerstand der USA und der EU durch und erstritten im November 2001 die
Doha-Erklärung zum TRIPS-Abkommen, die das Recht auf öffentliche
Gesundheitsfürsorge und den Zugang zu Arzneimitteln betont. Zwei Jahrzehnte und
eine weitere globale Gesundheitskrise später führen dieselben Akteure dasselbe
Stück nach einem ganz ähnlichen Drehbuch noch einmal auf.
Im Oktober 2020 brachten Südafrika und Indien bei der WTO einen Vorschlag
für eine Ausnahmeregelung („Waiver“) vom TRIPS-Abkommen für Patente,
Gebrauchsmuster und Geschäftsgeheimnisse ein, die den Zugang zu Impfstoffen und
Medikamenten oder die Herstellung von Medizinprodukten beschränken, die zur
Bekämpfung von Covid-19 dringend benötigt werden. Seit Kenia, Pakistan,
Venezuela, Ägypten und Bolivien sich als „Ko-Sponsoren“ für die Initiative
einsetzen und mittlerweile knapp 100 WTO-Mitgliedstaaten sie ebenfalls
befürworten, hat der Vorstoß mehr Gewicht bekommen. Auch die WHO, das
Gemeinsame Programm der UN zur Reduzierung von HIV/Aids und mehrere
UN-Sonderberichterstatter sprechen sich für die Ausnahmeregelung aus.
Genau wie vor 20 Jahren blockiert eine mächtige Clique reicher Länder unter
Führung der EU, der USA, Großbritanniens und Japans die Ausnahmeregelung mit
dem Argument, ein Patentverzicht würde die Innovationstätigkeit ausbremsen und
das TRIPS-Abkommen biete bereits flexible Möglichkeiten für die öffentliche
Gesundheitsfürsorge.
Bei Innovationen spielt die Finanzierung durch die Unternehmen nur eine
marginale Rolle.
Beide Argumente sind sachlich falsch. Laut einer Studie über 210
Medikamente, die zwischen 2010 und 2016 von der US Food and Drug Administration
zugelassen wurden, leistete die staatliche Förderung durch die National
Institutes of Health den größten Beitrag zur Finanzierung von Forschung und
Innovation. Eine neuere Studie kam zu dem Ergebnis, dass die Regierungen 2020
mindestens 88 Milliarden Euro für Covid-19-Impfstoffhersteller bereitstellten.
Dies zeigt deutlich, dass bei Innovationen die Finanzierung durch die
Unternehmen nur eine marginale Rolle spielt.
Die Entwicklungsländer bringen in der WTO schon seit Langem vor, dass die
strengen Bestimmungen des TRIPS-Abkommens es praktisch unmöglich machen,
bestehende Spielräume zu nutzen, und dass jeder Versuch, diese Spielräume in
Anspruch zu nehmen, Druck und handelspolitische Vergeltungsmaßnahmen seitens
einflussreicher Mitglieder wie der EU und der USA hervorrufen.
Die TRIPS-Ausnahmeregelung kann eine entscheidende Rolle bei der zügigen
Ausweitung der Impfstofflieferungen spielen. Da das Know-how zur Herstellung
des Astra-Zeneca-Impfstoffs relativ weit verbreitet ist, kann die Produktion in
Unternehmen in den Entwicklungsländern ausgebaut werden. In Indien hat nur das
Serum Institute of India, das mit der Nachfrage kaum Schritt halten kann, eine
Produktionslizenz. Es ist ein Skandal, dass Astra Zeneca von der EU weniger als
zwei US-Dollar für eine Dosis verlangt, während das weitaus ärmere Thailand
rund fünf US-Dollar pro Dosis zahlen muss. Die Herstellung im eigenen Land wird
den Staaten helfen, die Kosten erheblich zu senken.
Sollte es den USA und der EU ernst sein mit ihrer Absicht, in Sachen
Impfstoff ihren Beitrag zu einer weltweiten Gemeinschaftsanstrengung zu
leisten, müssten sie den Vorschlag für eine Ausnahmeregelung unterstützen. Die
Pandemie ist ein globales Problem, das eine globale Lösung und nicht eine Reihe
von nationalen Lösungen erfordert. Es ist absolut entscheidend, dass alle
Länder schnell und entschlossen handeln und die Menschen und ihre Gesundheit
über den Profit stellen. Nur dann können wir diese Pandemie besiegen.
Aus dem Englischen von Christine Hardung
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